Dr. Tony Walter

Weitgehend gestützt auf bereits veröffentlichte Literatur, untersucht dieser Beitrag eine von Frank* stammende Hypothese. Diese besagt, dass die derzeit stark anwachsende Zahl an autobiografischen Berichten über Trauer den Versuch der Betroffenen darstellt, der Medikalisierung von Trauer ihre Sichtweise entgegen zu stellen.

Doch das Ausmaß der medizinischen Durchdringung von Trauer erweist sich als gar nicht so absolut. Einige der Betroffenen lehnen zwar gezielt psychiatrienahe Begriffe ab, andere hingegen verwenden solche Wörter durchaus, um ihren Bericht zu strukturieren. Eine breiter angelegte Analyse zeigt, dass die Regulierung von Trauer häufig geschieht, ohne dass ein Bezug zu einer medizinischen Terminologie hergestellt wird. Es gibt hier unabhängig von der Medizin verschiedene andere Schauplätze, in denen die Regulierung von Trauer stattfindet: z.B. in einer patriarchalischen und kontrollierenden Kultur, innerhalb der Dynamik einer Familie oder auch im Rahmen von Beratung und Selbsthilfegruppen. In diesem Zusammenhang werden drei Themen etwas genauer beleuchtet:
• Der Einfluss der Frauenbewegung darauf, dass heute viel offener und persönlicher über Trauer berichtet wird;
• das Schweigen innerhalb von Familien über die Trauer, aus dem Wunsch heraus, das emotionale Gleichgewicht zu wahren und
• die Ausgrenzung von Trauernden durch Selbsthilfegruppen, die sich nur über eine bestimmte Verlustart bzw. -geschichte definieren.
Der Widerstand gegen eine Regulierung von Trauer richtet sich also ebenso gegen die Regulierungsversuche von Familien- oder Gruppenmitgliedern wie auch gegen die Medikalisierung von Trauer.

*Frank A.W. (1995): „The Wounded Storyteller: Body, Illness, and Ethics”, Chicago, Chicago University
Press.

Walter, Tony (2000): „Grief narratives: the role of medicine in the policing of grief“, in: Anthropology & Medicine, Vol. 7, Nr. 1, S. 97-114.

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