Richard A. Bryant
Ziel des Reviews: Das Konstrukt der Komplizierten Trauer ist empirisch gut belegt. Trotzdem wurde der Vorschlag, sie als psychische Erkrankung in das Klassifikationssystem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5th Edition (DSM-5) mit aufzunehmen, sehr kontrovers diskutiert und letztendlich abgelehnt. Diese Übersichtsarbeit erläutert die Argumente für und gegen die Komplizierte Trauer als eigenständige Diagnose und beleuchtet, welche Auswirkungen diese Entscheidung hat.
Jüngste Erkenntnisse: Die Datenlage zeigt, dass die Komplizierte Trauer, gekennzeichnet durch anhaltende und intensive Sehnsucht nach dem Verstorbenen, sich als Konstrukt gut abgrenzen lässt von verlustbedingter Depression und Angst. Die Komplizierte Trauer geht einher mit einer ausgeprägten Störung der Funktionsfähigkeit im Alltag und spricht gut auf Interventionen an, die gezielt auf dieses Konstrukt ausgerichtet sind. Weiterhin hat es sich in verschiedenen Kulturen, Altersgruppen und bei unterschiedlichen Verlustarten als valide erwiesen. Der Ablehnung des Konstrukts stehen umfassende Erkenntnisse gegenüber, die darlegen, welche Mechanismen zur Entstehung einer Komplizierten Trauer führen können, wie beispielsweise dysfunktionale Bewertungen, bestimmte Gedächtnis- und Aufmerksamkeits-, immunologische und stressspezifische Prozesse sowie spezielle neuronale Vernetzungen.
Zusammenfassung: Im Gegensatz zum DSM-5 wird die International Classification of Diseases (ICD-11) die Komplizierte Trauer ziemlich sicher als eigenständige Diagnose aufnehmen. Die Entscheidung gegen eine Aufnahme des Konstrukts in das DSM-5 wird voraussichtlich dazu führen, dass Hinterbliebene mit Anzeichen von Komplizierter Trauer fälschlicherweise als depressiv diagnostiziert werden und dadurch möglicherweise falsch behandelt werden. Es ist hingegen unwahrscheinlich, dass sich die Entscheidung gegen die Aufnahme des Konstrukts in das DSM-5 negativ auf zukünftige Forschungsvorhaben auswirken wird.
Bryant, Richard A. (2014): “Prolonged grief: where to after Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5th Edition?”, in: Current Opinion in Psychiatry, Vol. 27, Nr. 1, S. 21-26.
Bei Interesse am gesamten englischsprachigen Artikel wenden Sie sich bitte an
h.willmann@trauerforschung.de
(1) Im Originaltext wird der Begriff prolonged grief verwendet. Er bezeichnet in anderer Weise das, was auch persistent complex bereavement disorder, traumatic grief oder complicated grief genannt wird. Damit es nicht zu inhaltlichen oder sprachlichen Verwirrungen im Deutschen kommt, sprechen wir nur von Komplizierter Trauer.