Libby Sallnow, Richard Smith, Sam H. Ahmedzai et al.

Die Geschichte des Sterbens im 21. Jahrhundert ist geprägt von einem Paradox. Während viele Patienten in Kliniken ein Übermaß an medizinischer Versorgung erhalten und Angehörige bei der Versorgung kaum eine Rolle spielen, ist der größere Teil der Menschen unterversorgt, stirbt an vermeidbaren Krankheiten, und hat keinen Zugang zu schmerzlindernder Therapie. Dieses widersprüchliche Bild von Sterben und Tod bildet die Grundlage für diese Ausführungen.

Die Art und Weise, wie Menschen sterben, hat sich in den letzten Jahrzehnten radikal verändert. Viele Menschen sterben erst in einem hohen Lebensalter und häufig zieht sich das Sterben hin. Sterben und Tod finden nicht mehr im familiären und gemeinschaftlichen Kontext statt, sondern sind in erster Linie die Domäne des Gesundheitswesens. Sinnlose oder potenziell ungeeignete Behandlungen können bis in die letzten Stunden des Lebens fortgesetzt werden. Die Gesellschaft und die Familien haben nur wenig Berührung mit Sterben und Tod. Es sind für viele ungewohnte Bereiche des Le-bens, entsprechend sind Fähigkeiten, Traditionen und Wissen verloren gegangen. Ster-ben und Tod sind in Ländern mit hohem Einkommen und in zunehmendem Maße auch in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen aus dem Geleichgewicht geraten; der Schwerpunkt liegt zu sehr auf den klinischen Maßnahmen am Ende des Lebens, andere Aspekte finden kaum Beachtung.
Mit der COVID-19-Pandemie ist der Tod wieder in das Leben der Menschen getreten, täglich wurde in den Medien über Sterben und Tod berichtet, das Gesundheitswesen zeigte sich überfordert. Viele Menschen sind in dieser Zeit einen medikalisierten Tod gestorben, vielfach alleine bis auf das maskierte Personal in den Kliniken und auf den Intensivstationen. Sie starben ohne die Möglichkeit, mit ihrer Familie zu kommunizieren, außer auf elektronischem Wege. Diese Situation hat die Angst vor dem Tod weiter geschürt und die Vorstellung verstärkt, dass die Gesundheitsfachkräfte Menschen vor dem Tod bewahren könnten.  
Der Klimawandel, die COVID-19-Pandemie, die Umweltzerstörung und die Einstellung zum Tod haben in den Industrienationen ähnliche Wurzeln – es ist die Illusion, dass wir die Natur kontrollieren könnten und nicht Teil von ihr sind. In die Verlängerung des Lebens wird viel Geld investiert, ja sogar darein, Unsterblichkeit zu erreichen. Dies geschieht jedoch nur in einigen wenigen Ländern. Gleichzeitig kämpft die Welt darum, ihre Bevölkerung zu ernähren. Das Gesundheitswesen und der Einzelne scheinen sich schwer damit zu tun, die Unausweichlichkeit des Todes zu akzeptieren.
Philosophen und Theologen aus aller Welt haben erkannt, welchen Wert der Tod für das menschliche Leben hat. Tod und Leben sind untrennbar miteinander verbunden: Ohne den Tod gäbe es kein Leben. Der Tod bringt neue Ideen hervor und weist auf andere Wege hin. Er erinnert uns an unsere Zerbrechlichkeit und Gleichartigkeit: Wir alle ster-ben. Die Betreuung von Sterbenden ist ein Geschenk, wie einige Philosophen und viele Pflegende, sowohl Laien als auch Fachkräfte, erkannt haben. Ein Großteil dieses Wertes, der im Tod liegt, wird in der modernen Welt nicht gesehen und gewürdigt. Dabei kann er das eigene Leben bereichern und auch zu einer verbesserten Versorgung am Lebensende beitragen.
Behandlungen für Personen, die am Lebensende stehen, sind kostspielig und eine Ursache dafür, dass Familien in Ländern ohne ein allgemeines Gesundheitsversorgungs-system in die Armut abrutschen. In den Industrieländern werden zwischen 8 % und 11,2 % der jährlichen Gesundheitsausgaben für das eine Prozent der Menschen ausgegeben, die noch im gleichen Jahr sterben. Ein Teil dieser hohen Ausgaben ist gerechtfertigt, aber es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Patienten und Gesundheitsfachkräfte sich mehr von den Behandlungen versprechen als realistisch davon zu erwarten ist. Häufig ist keine Heilung mehr möglich, aber dennoch wird die Behandlung fortgesetzt.
Viele Menschen tun sich schwer damit, über Sterben und Tod zu sprechen. Aus diesem Grunde vermeiden Ärzte, Patienten und Angehörige das Gespräch darüber und fahren stattdessen mit der Behandlung fort. Dies führt jedoch zu einer unangemessenen Behandlung von Schwerstkranken und Sterbenden. Die Palliativversorgung kann die Lebensqualität von Patienten und Pflegenden verbessern, häufig sogar zu geringeren Kosten. Versuche, sie in allen Versorgungssektoren zu integrieren, waren bisher nur begrenzt erfolgreich und so hängt es von der jeweiligen Einrichtung ab, wie sie auf diese soziale Problematik reagiert.
Sterben, Tod und Trauer werden von vielen Faktoren beeinflusst, darunter soziale, kulturelle, wirtschaftliche, religiöse und politische Faktoren. Möchte man Sterben und Tod wieder ins Leben zurückholen und sie neu bewerten, müssen alle Faktoren Berücksichtigung finden. Ein reduktionistischer, linearer Ansatz, der diese komplexen Zusammenhänge außer Acht lässt, wird nicht erfolgreich sein. Insbesondere sozial marginalisierte Gruppen leiden unter einer schlechten Versorgung, wenn sie von Sterben, Tod und Trauer betroffen sind. Das hat die COVID-19-Pandemie gezeigt. Wenn es um Sterben, Tod und Trauer geht, beeinflussen die Faktoren Einkommen, Bildung, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung und zahlreiche weitere Faktoren, wie gut die Menschen in dieser Zeit versorgt werden und welche Möglichkeiten sie haben, etwas an den Gründen, die der unzureichenden Versorgung zugrunde liegen, zu verändern.
Die ‚Lancet Commission on the Value of Death‘ hat fünf Grundsätze einer realistischen Utopie erarbeitet – eine radikale Vision für einen neuen, verbesserten Umgang mit Sterben und Tod. Die fünf Grundsätze lauten: Die sozialen Ungleichheiten, die Sterben, Tod und Trauer beeinflussen, werden bekämpft; Sterben wird wieder als zwischenmenschlicher und spiritueller Prozess verstanden werden und nicht nur als rein physiologisches Ereignis; ganze Netzwerke unterstützen Sterbende, pflegende Angehörige und trauernde Menschen; Gespräche und Geschichten über Sterben, Tod und Trauer finden wieder Eingang in den Alltag (aber nicht in Form tragischer Einzelfallgeschichten, sondern gemeint sind Geschichten und Gespräche über das alltägliche Sterben); der Tod wird neu bewertet und sein Wert wieder anerkannt.
Gesellschaften befinden sich in ständigem Wandel und derzeit existieren schon zahlreiche Programme, die unsere Vision bzw. einen neuen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer fördern. Vielerorts wird der aktuell praktizierte Umgang mit Sterbenden und Trauernden infrage gestellt, bürgerschaftliches und gemeinschaftliches Handeln in Form von sorgenden Gemeinschaften ist zu beobachten. Weitere Veränderungen sind nötig, um eine partnerschaftliche (Patient, Familienangehörige, Gesundheitsfachkräfte) und ganzheitliche Betreuung von Sterbenden im Gesundheitssystem etablieren zu können.     
Diese Veränderungen bedeuten keinen vollständigen Systemwechsel, aber in Kerala, Indien, wurde in den letzten drei Jahrzehnten etwas erreicht, das der realistischen Utopie der Lancet Commission sehr nahekommt. Eine breite soziale Bewegung, bestehend aus zehntausenden von Personen, hat es geschafft, dass die Gesellschaft sich wieder verantwortlich für Sterben und Tod fühlt und die Themen wieder einen Platz in der Mitte der Gesellschaft gefunden haben. Politische, rechtliche und versorgungspolitische Maßnahmen haben diese Veränderungen dann ergänzt.   
Damit unsere radikale Vision Wirklichkeit und ein neuer Umgang mit Sterben, Tod und Trauer erreicht wird, haben wir eine Reihe von Empfehlungen erarbeitet, die darlegen, welche nächsten Schritte nötig sind. Wir legen sie den politischen Entscheidungsträgern, den Gesundheitsversorgern, den Sozialfürsorgern, der Zivilgesellschaft und der allgemeinen Bevölkerung dringend ans Herz. Sterben und Tod müssen nicht nur als normal, sondern auch als wertvoll anerkannt werden. Die Betreuung von Sterbenden und Trauernden muss neugestaltet werden und wir rufen alle Menschen dazu auf, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Sallnow, L.; Smith, R., Ahmedzai, S. H. et al., (2022). „Report of the Lancet Commission on the Value of Death: bringing death back into life“, in: The Lancet Commissions, Vol. 399, No. 10327, S. 837-884, online: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(21)02314-X

Sie finden den gesamten Artikel online unter: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(21)02314-X oder wenden Sie sich an h.willmann@trauerforschung.de 

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